Publikationen

Die Wikipedia als Werkzeug für individuelle und kooperative Lernprozesse

26.September 2011  

Ab sofort ist das „Alles über Wikipedia – und die Menschen hinter der größten Enzyklopädie der Welt“ im Handel erhältlich. Den Beitrag über unsere Forschung in diesem Kontext gibt es hier.

Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums von Wikipedia schauen knapp 100 Wikipedia-Autoren, Leser, Wissenschaftler, Journalisten und Kritiker auf die Geschichte der größten Wissenssammlung der Menschheit. „Alles über Wikipedia“ ist im Verlag Hoffmann und Campe erschienen und das erste Buch, das bei einem deutschen Traditionsverlag unter freier Lizenz verlegt wird. Deshalb freue ich mich, dass es möglich ist, den kurzen Beitrag, den ein Kollege und ich für das Buch geschrieben haben, hier zu veröffentlichen.

„Das Ziel von Wikipedia ist es, eine frei lizenzierte und qualitativ hochstehende Enzyklopädie zu schaffen und zu verbreiten“, schreibt die Online-Enzyklopädie Wikipedia über sich selbst. Tatsächlich wird in der Öffentlichkeit vor allem wahrgenommen, dass hier ein gigantischer „Wissenspool“ entstanden ist und immer noch weiter entsteht. Die Wikipedia bietet eine beeindruckende Sammlung von in hohem Maße verlässlich und objektiv dargestellten Fakten. Damit ist sie in der Tat eine bedeutsame Quelle an Informationen, auf die weltweit unzählige Nutzer tagtäglich zugreifen, um sich gezielt genau jene Information zu beschaffen, die sie in einem bestimmten Moment benötigen. Die einfache Verfügbarkeit dieser Informationen in der Wikipedia ist inzwischen für die meisten Internetnutzer zu einer absoluten Selbstverständlichkeit geworden.

Aus der Sicht von empirisch orientierten Bildungsforschern und Psychologen ist allerdings nicht nur spannend, dass es sich bei der Wikipedia um eine enorme, für jeden verfügbare Wissensressource handelt; zugleich fasziniert auch und vor allem der Prozess, der bei der Entstehung dieses Online-Lexikons zu beobachten ist. Denn dieser Prozess führt eben nicht nur zu einer Situation, in der Informationen von vielen Beteiligten zusammengetragen und von noch mehr Nutzern abgefragt werden können. Vielmehr können sich auch die beteiligten Individuen selbst hinsichtlich ihres Wissens weiterentwickeln. Dies gilt in besonderer Weise für jene Nutzer, die sich aktiv einbringen und an der Weiterentwicklung der Wikipedia mitarbeiten; sei es, indem sie bestehende Artikel redigieren, Texte in grundsätzlicher Weise neu strukturieren oder wichtige Quellen recherchieren und ergänzen. Eine Weiterentwicklung des eigenen Wissens ist aber auch bei jenen Nutzern zu erwarten, die Inhalte bloß rezipieren und kognitiv verarbeiten, wenn sie gezielt nach Informationen suchen, in Artikeln lediglich stöbern oder sich, vom eigenen Interesse geleitet, von Seite zu Seite klicken, weil sie immer wieder auf neue relevante Begriffe stoßen.

Deshalb interessieren wir uns für zwei bedeutende Prozesse: Die kooperative Arbeit an der Wikipedia, die zu einem gemeinsamen Pool von Wissen führt und die individuellen Lernprozesse eines Einzelnen beim Lesen oder Bearbeiten der Wikipedia. Um diese Prozesse empirisch untersuchen zu können, haben wir ein systemtheoretisches Modell entwickelt, das Kooperationsprozesse und individuelles Lernen beschreibt. Dabei kombinieren wir systemtheoretische Konzepte mit kognitionspsychologischen Theorien. Wir untersuchen also nicht nur das sich entwickelnde System Wikipedia, sondern auch die Entwicklung der daran gekoppelten kognitiven Systeme der Nutzer und wie sich diese beiden Systeme gegenseitig beeinflussen. Im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie entwickeln sich diese beiden Systeme im Prinzip unabhängig voneinander. Es handelt sich um unterschiedliche Systeme mit unterschiedlichen Operationsmodi, nämlich um kognitive Systeme einerseits und um ein soziales (mit Hilfe von Kommunikation operierendes) System andererseits. Zugleich beeinflussen sich die Systeme allerdings auch gegenseitig. Fehlen zum Beispiel in einem Wikipedia-Artikel wichtige Informationen, wird der Einzelne dadurch angeregt, eigenes Wissen zu ergänzen. Das System Wikipedia wird dann auf diese Veränderungen reagieren, die Ergänzungen weiterentwickeln oder Inhalte ohne entsprechende Quellenangabe oder nicht neutral dargestelltes Wissen schnell wieder löschen. Die Regeln, nach denen die Wikipedia reagiert, entwickeln sich dabei dynamisch weiter und werden durch das Verhalten der Einzelnen beeinflusst.

Diese wechselseitige Beeinflussung ist so ausgeprägt und unabdingbar, dass von einer gemeinsamen Entwicklung im Sinne einer Ko-Evolution gesprochen werden kann. Das Zusammenwirken von Systemen, die auf Kommunikation einerseits und kognitiven Prozessen (Lernen, Gedächtnisprozesse etc.) andererseits beruhen, wird dadurch ermöglicht, dass sich beide letztlich der Sprache bedienen. Auf diese Weise wird die Wikipedia nicht nur zu einem just-in-time-Lieferanten von Fakten, sondern auch zu einem bedeutenden Bildungsinstrument. Individuen, die sich an der Wikipedia beteiligen, tragen zur Weiterentwicklung des gemeinsamen Wissens bei und erwerben gleichzeitig selbst neues Wissen. Sie werden angeregt, eigenes Wissen genauer zu beschreiben und tiefer zu verarbeiten. Beide Systeme – die Wikipedia und die kognitiven Systeme der Nutzer – entwickeln sich nicht nur quantitativ weiter, das Wissen wird nicht einfach nur mehr. Vielmehr entstehen neue Verknüpfungen und Strukturen. Dieser permanente Austauschprozess kann kreatives und selbstgesteuertes Lernen anregen und die Wikipedia zu einem wichtigen Werkzeug für individuelle und kooperative Lernprozesse werden lassen.

Dieser Text von Johannes Moskaliuk und Joachim Kimmerle ist in dem Buch Alles über Wikipedia bei Hoffmann und Campe erschienen und steht unter der Lizenz Creative Commons Attribution ShareAlike.

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